Hier ist das Original Interview mit Angela Merkel. Nachdem ich gerade den Axel-Springer Medium “Welt” Artikel und die “Diskussion” darunter in den Kommentaren gesehen habe, denke ich, wir sollten mal auf die Original-Quelle schauen. Axel-Springer verfolgt eine rechtsradikale Agenda, für die Friedrich Merz als ehemaliger Rivale von Angela Merkel hochgelobt werden muss. Sich von Axel-Springer aufhetzen zu lassen geht in jedem Fall schief, egal wie man zu dem jeweiligen Thema oder den jeweiligen Personen steht.

Die Aussagen von Merkel zur Ukraine und damit verbundene Themen:


Angela Merkel: „Sondervermögen für Verteidigung wäre auf jeden Fall notwendig gewesen“

Frau Merkel, wir waren eigentlich vor einer Woche verabredet, vier Tage nach dem Eklat zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj in Washington. Sie haben darum gebeten, das Interview wegen der „dramatischen Entwicklungen“ zu verschieben. Warum?

Der Termin war nach dem Treffen in Washington und unmittelbar vor Präsident Trumps Rede vor dem US-Kongress. Ich hatte den Eindruck, dass im Zusammenhang sowohl mit dem, was er zur Ukraine sagen würde, als auch den Sondierungsgesprächen zwischen CDU und SPD zu den Sondervermögen einiges in Bewegung war. Wir waren in einer bestimmten Phase, wo vielleicht Wesentliches, um nicht zu sagen Großes, beschlossen werden würde. Alles konnte sich jeden Moment wieder ändern.

[…]

Das Sondervermögen über Hunderte Milliarden Euro hat eine Dimension, die wir so nicht kannten. Würden Sie im Bundestag dafür stimmen?

Es finden ja noch Beratungen statt, aber im Grundsatz würde ich dafür stimmen, ja. Ich finde, dass das Sondervermögen für die Verteidigung, was in seiner Größe nicht genau bestimmt ist, sehr klug ausgewählt ist. Man nimmt einen bestimmten Sockelbetrag in den normalen Haushalt, und kann dann sehen, wie sich die Diskussionen in der Nato entwickeln, welche Beschlüsse im Nato-Rat gefasst werden, so lässt man sich einen gewissen Spielraum. Stärker debattiert wird die Frage, ob die Schuldenbremse reformiert oder ein Sondervermögen für die Infrastruktur beschlossen werden soll.

[…]

Merkel zum Eklat in Washington: „Ich habe gedacht, dass ich so etwas nie wieder sehen möchte“
Der Moment, der das alles ausgelöst hat, war das Treffen von Trump und Selenskyj in Washington im Weißen Haus. Ein historischer Moment?

Das Sondervermögen für Verteidigung wäre in jedem Falle notwendig gewesen. Es gibt manchmal Dinge, bei denen man weiß, dass sie passieren müssen. Und dann gibt es auslösende Momente. Und dieses Treffen von Präsident Selenskyj mit Präsident Trump im Oval Office war so ein Moment, Ausdruck der Haltung, dass die Amerikaner nicht mehr einfach an der Seite des ukrainischen Präsidenten stehen.

Was haben Sie gedacht, als Sie das Treffen gesehen haben?

Dass ich so etwas nie wieder sehen möchte. Dass es sehr bedrückend ist.

[…]

War das ein Nachteil für Selenskyj, dass er Englisch gesprochen hat und es ganz offensichtliche Missverständnisse in der Kommunikation gab?

Ich will das alles nicht kommentieren. Ich sage nur, ich hätte diese Begegnung so lieber nicht gesehen, zumal wenn man bedenkt, dass sie auch in ganz Russland gesehen wurde, auch von Präsident Putin.

[…]

Schuldet Deutschland den Amerikanern aber nicht wirklich etwas? Oder die Ukraine den USA?

Das ist überhaupt nicht mein Denken. Die USA und wir, also Deutschland und die Europäische Union, unterstützen die Ukraine aus eigenem Interesse, weil man ein Land nicht einfach überfallen, seine territoriale Souveränität nicht infrage stellen darf, was ja auch Auswirkungen auf uns haben kann. Die USA haben sich 1994 mit dem Budapester Memorandum neben Großbritannien und Russland für die territoriale Souveränität der Ukraine eingesetzt, Voraussetzung dafür, dass die Ukraine ihre Nuklearwaffen abgegeben hat. Insofern haben sie die Verantwortung für die Sicherheit der Ukraine übernommen. So jedenfalls kannte man bisher die Vereinigten Staaten von Amerika.

Hat Trump auf seine sehr radikale Art vielleicht auch gewisse Wahrheiten ausgesprochen, die sonst eher selten gesagt werden: dass der Ukraine die Soldaten fehlen, dass zu viele Menschen sterben, dass sie ohne die USA diesen Kampf gegen Russland nicht viel länger kämpfen könnten?

Die Ukraine befindet sich in einem Kampf um ihre Existenz als souveräner Staat. Freunde und Partner können immer miteinander analysieren, wo Stärken und Schwächen sind, und zwar hinter verschlossenen Türen. Wenn man einem Land helfen will, das von einem Aggressor vernichtet werden soll, viel kleiner ist und auch nicht die militärische Ausgangsstärke hat, verbietet es sich, über Interna in der Öffentlichkeit zu reden und das noch in einem solchen Ton.

[…]

War der Eklat geplant?

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Ich möchte, dass die Ukraine aus diesem Überlebenskampf als souveränes Land in Frieden und Freiheit hervorgehen kann. Für dieses Ziel müssen neben militärischer Stärke diplomatische Mittel eingesetzt und auch Kompromisse eingegangen werden, und zwar in Würde. Vielleicht gibt es ja jetzt Fortschritte. Ich finde es auf jeden Fall sehr, sehr gut, dass sich die Europäer sofort nach dem Besuch von Präsident Selenskyj in Washington in London getroffen haben.

Würden Sie sagen, dass sich Trump auf die Seite Putins schlägt?

Darüber kann man im Augenblick noch kein abschließendes Urteil fällen. Aber dass die USA zusammen mit Russland wenige Tage vor der Oval-Office-Begegnung in der UN-Vollversammlung eine Resolution gegen die territoriale Integrität der Ukraine beschlossen haben, ist sehr erstaunlich, bemerkenswert.

[…]

Sie beschreiben Putin in Ihrem Buch als jemanden, der immer auf der Hut ist, bloß nicht schlecht behandelt zu werden und jederzeit bereit ist, auszuteilen. Dasselbe könnte man über Trump sagen.

Ich will die beiden nicht gleichsetzen. Sie sind unterschiedlich. Präsident Putin geht es in meiner Wahrnehmung sehr um Anerkennung, gerade von Amerika. Dieses Denken kommt noch aus der Zeit des Kalten Krieges, für ihn sind die relevanten Größen nicht Deutschland oder die EU, sondern die eigentlich große Macht die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie waren und sind sein Bezugspunkt.

Angela Merkel: „Hätte es ohne die Pandemie diesen Krieg gegeben?“
Sie haben wie sonst kein anderer Politiker mit Putin verhandelt, immer wieder. In Ihrem Buch zitieren Sie ihn mit den Worten: „Du wirst nicht ewig Bundeskanzlerin sein. Und dann werden die Ukraine und Georgien Nato-Mitglied.“ Heißt das, wenn Sie weiter Kanzlerin geblieben wären, hätte es diesen Krieg nicht gegeben?

Das kann kein Mensch beantworten. Ich habe mit der aktiven Politik aufgehört, und das war richtig. Ich würde eher die Frage stellen: Hätte es ohne die Pandemie diesen Krieg gegeben? Wenn wir uns öfter gesehen, mehr persönliche Gespräche hätten führen können? Als Putin 2021 seine Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze versammelt hatte und Präsident Biden uns beim G20-Gipfel im Oktober 2021 darauf hinwies, hätten ich und andere Putin normalerweise sofort beiseite genommen und gesagt: Was soll das, wo führt das hin? Wegen Corona aber war Putin gar nicht gekommen. Was bleibt, ist diese Bewertung: die Verletzung aller Abkommen, die Russland nach dem Ende des Kalten Krieges unterschrieben hat, ein Bruch des Völkerrechts. Es war richtig, alles versucht zu haben, um so ein Drama wie diesen Krieg zu verhindern. Es ist nicht gelungen, das hat alles verändert.

Was müsste man Putin geben, damit er einem Friedensabkommen zustimmt?

Wie ein überzeugendes Bündel für ein Abkommen aussehen kann, kann ich nicht sagen, ich bin ja nicht mehr aktiv in der Politik, habe jahrelang kein Wort mit Präsident Putin gesprochen.

Wann zum letzten Mal?

Im August 2021 zum Abschiedsbesuch in Moskau und kurz nach meinem Ausscheiden aus dem Amt im Dezember noch einmal am Telefon.

Was hat er gesagt?

Etwas Freundliches. Aber es war schon im August 2021 klar, dass er bereits an die nächste deutsche Regierung gedacht hat, wenn es um Fragen der Macht oder der Wahrnehmung seiner Interessen ging. Ich glaube, er hat es nur schwer verstanden, dass ich freiwillig aufgehört habe. So etwas kam für ihn nicht infrage.

Putins Sicht der Dinge nicht zu beachten, sei grob fahrlässig, schreiben Sie in Ihrem Buch. Sie kritisieren auch George Bush und seine Pläne, die Ukraine in die Nato zu holen, sprechen über das Risiko eines Nato-Osterweiterungsschrittes. Putin habe der Tatsache, dass die USA aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangen sind, etwas entgegensetzen wollen. Verstehen Sie seine Sicht?

Nein, ich glaube, dass er den Sinn für die Realität verloren hatte, als er versuchte, die Ukraine in einer Art Staatsstreich in wenigen Tagen zu verändern. Und er hat offensichtlich eine vollkommen andere Einschätzung darüber, wie sich seit 2014 die Menschen in der Ukraine verändert haben, dass auch ein großer Teil der russischen Bevölkerung nicht mehr zu ihm hält, nachdem er im Donbass die Separatisten unterstützt hat.

Angela Merkel: „Den Diskurs über die Interessen Russlands muss man zulassen“
Putins Sicht auf den Westen und die Nato-Osterweiterung wird kaum noch diskutiert. Wer das macht, wird schnell als Putin-Versteher abgestempelt. Wie finden Sie das?

Nicht gut, denn es muss ja eine Diskussion darüber geben können. Man muss diplomatische Initiativen vordenken, damit sie im richtigen Moment zur Verfügung stehen. Wann die Stunde der Diplomatie geschlagen hat, kann nicht allein Präsident Selenskyj entscheiden, sondern die Ukraine nur gemeinsam mit ihren Unterstützern. Denn wir als Freunde der Ukraine gehen ja auch ins Risiko für die Ukraine. Den Vorwurf „Putin-Versteher“ finde ich nicht in Ordnung. Denn er ist ein Totschlagargument.

Wurden Sie auch schon mal so bezeichnet?

„Putin-Versteher“ hat noch keiner zu mir gesagt, das ist ein komisches Wort. Zu verstehen, was Putin macht, sich in ihn hineinzuversetzen, ist nicht falsch. Denn es ist eine grundlegende Aufgabe der Diplomatie und etwas anderes als Putin-Unterstützer. Es gibt keinerlei Entschuldigung dafür, dass er ein anderes Land überfällt. Aber den Diskurs über die Interessen Russlands muss man zulassen.

Trauen Sie es Putin zu, das Baltikum, Polen und Deutschland anzugreifen?

Ich kann dazu nur sagen, dass es Teil der russischen Militärdoktrin ist, andere Länder zu schwächen: durch Cyberangriffe, Falschinformationen, Bots, Manipulation im Internet. Das passiert täglich. Präsident Putin versucht, die Europäische Union zu schwächen, mit den Mitteln, die ihm im Augenblick zur Verfügung stehen.

Haben Sie zu lange daran geglaubt, man könne mit ihm verhandeln? War der Bau von Nord Stream 2 ein Fehler?

Ich glaube, ich gehöre zu denen, wenn ich das jetzt etwas arrogant sagen darf, die sich über Putin sehr wenig Illusionen gemacht haben. Ich wusste, er hat Georgien überfallen, er hat die Krim annektiert, er hat mich damals belogen. Ich finde es trotzdem richtig, alles versucht zu haben, um einen solchen Krieg zu verhindern. Putin hat 2022 die Ukraine angegriffen, obwohl Nord Stream 2 noch nicht in Betrieb war. Ich empfehle, sich in die Zeit, in der man damals war, hineinzuversetzen. Und ich empfehle weiterhin, nicht sofort, wenn sich heute eine andere Perspektive ergibt, zu sagen, man hätte damals falsch entschieden. Das jedenfalls lasse ich für mich so nicht gelten.

[…]

Er verlangt darin, Osteuropa auf den Stand von 1999 zurückzubringen, was heißt, Länder wie Polen oder Bulgarien müssten wieder aus der Nato austreten.

Ja, und vorher hatte er schon mal einen Artikel zum Hitler-Stalin-Pakt verfasst und unfassbare Sachen, auch über die Rolle der polnischen Regierung, geschrieben. Über diesen Artikel hatte ich mit ihm gesprochen. Er hat sich immer stärker eigene Theorien zu seinen Zielen zusammengebaut, die historisch mehr als fragwürdig sind.

Er müsste doch aber wissen, dass es unmöglich ist, zum Jahr 1999 zurückzugehen.

Ja, sicher. Von ihm sind ja auch aus den Jahren danach scharenweise Zitate bekannt, in denen er sich mit dem derzeitigen Status quo zufriedengibt. Er hat immer wieder etwas anderes gesagt.

Würden Sie, wenn man Sie bitten würde, jetzt nochmal mit Putin verhandeln?

Ich glaube, die Aufgabe liegt bei denen, die heute die Verantwortung haben.

[…]

Sie glauben, die Ukraine kann Russland besiegen?

Ich glaube, man kann schaffen, dass Russland den Krieg nicht gewinnt und somit die Ukraine eine Zukunft als souveräner Staat in Frieden und Freiheit hat. Militärisch allein wird das nicht gelingen. Ohne Diplomatie wird man dieses Ergebnis nicht erreichen. Ich bin jetzt nicht die Verhandlerin, aber es sollte das Ziel sein, und es sollte gelingen.

  • AbnormalHumanBeingA
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    10 hours ago

    Ach ja, die “Welt”… Merkel erscheint mehr und mehr wie das letzte Aufbegehren des “klassichen”, konservativen Staatsmenschen, mit Werten und Kompetenzen, in einer Welt, in der Konservativismus mehr und mehr “might makes right”-Nihilismus und, noch stumpfer als früher, Populismus zu bedeuten scheint. Nicht, dass ich nicht auch mit den “alten Werten”, durch meine eigenen Ansichten, im Konflikt liege, aber sie haben eben eine Grundlage gehabt.

    Putins Sicht auf den Westen und die Nato-Osterweiterung wird kaum noch diskutiert. Wer das macht, wird schnell als Putin-Versteher abgestempelt. Wie finden Sie das?

    Nicht gut, denn es muss ja eine Diskussion darüber geben können. Man muss diplomatische Initiativen vordenken, damit sie im richtigen Moment zur Verfügung stehen. Wann die Stunde der Diplomatie geschlagen hat, kann nicht allein Präsident Selenskyj entscheiden, sondern die Ukraine nur gemeinsam mit ihren Unterstützern. Denn wir als Freunde der Ukraine gehen ja auch ins Risiko für die Ukraine. Den Vorwurf „Putin-Versteher“ finde ich nicht in Ordnung. Denn er ist ein Totschlagargument.

    Das würde ich mir auch manchmal in der Diskussion hier bezeiten wünschen. Nicht etwa, die Kritik zurücknehmen an Mythen, wo sie verbreitet werden. Aber anerkennen, dass auch etwa exemplarisch die momentane Position bei den Linken als eine fehlerhafte, zu diskutierende Position angegriffen wird, anstatt - wie ich oft erlebt habe - als eine, die in kompletter Gedankenleere, dogmatisch, oder gar mit finsteren Absichten entstanden sei. Ist natürlich ein eigenes Thema jetzt speziell für mich, als Mitglied dort, der Außenpolitisch die Dinge anders sieht als im momentanen Programm. Aber es ist nicht einfach dadurch, dass sie nicht der eigenen Position entspricht, automatisch eine absolut dumme, rein dogmatische oder gar verräterische.

    Sorry für den off-topic Exkurs, hatte nur Diskussions-Flashbacks.